Montag, 10. Oktober 2011

Weltliteratur

Wir wollen uns heute einer höchst bemerkenstwerten jungen Frau zuwenden, die jedesmal, wenn sie im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung die Besprechung eines neuen besonders guten Buches liest, für wenigstens 30 Sekunden so inspiriert davon ist, dass sie in darauffolgenden Geistesblitzen ihrerseits den perfekten Roman ersinnt.
Die Tragik dieser Situation liegt darin, dass die Aufmerksamkeitsspanne dieser höchst bemerkenswerten jungen Frau kaum je länger als die bereits erwähnten 30 Sekunden dauert und leider bis heute noch keine Maschine erfunden wurde, die Gedankengänge in der Länge eines Romanes in 30 Sekunden niederschreiben könnte.
So taucht die junge Frau in regelmässigen Abständen - wobei sie nicht ganz so regelämssig sind wie das Erscheinen der Zeitung, da die junge Frau sie nicht jeden Morgen kauft, dann aber auch wieder sehr häufig, weil sie unter Umständen auch durch banale Sätze in Gratiszeitungen inspiriert wird, wie sie sie zwar widerstrebend, aber doch allzu oft auf dem Weg von und zur Arbeit liest - in die Welt ihrer imaginären Romane ein, die so plastisch ist, dass sie in diesen 30 Sekunden nicht nur den Ort der Handlung ihres Buches sieht, sondern auch riecht und fühlt, als wäre sie geradewegs in eine andere Dimension eingetaucht.
Dies allein wäre vielleicht noch gar nicht so tragisch, sondern unter Umständen sogar schön für die kreative junge Frau, wenn nicht sowohl uns als auch ihr bekannt wäre, dass sie in diesen Geistesblitzen tatsächlich den perfekten Roman vor Augen hat oder noch besser die perfekten Romane, da sie kaum je zweimal zur gleichen Geschichte inspiriert wird.
Sobald also diese 30 Sekunden um sind und die junge Frau aufgrund von Faulheit oder schlichtem Unvermögen, den intensiven Moment innerhalb kürzester Zeit in einen valablen Roman umzuwandeln, wieder in die Realität zurückkehrt, geht ein grosses Werk der Weltliteratur verloren.


Dabei kann man wirklich sagen, dass sie ein bisschen faul ist, denn meistens versucht sie gar nicht erst, die Gedanken auf Papier zu bringen oder sie bricht nach zwei bis drei Sätzen ab, wenn sie mal schnell genug war, innert nützlicher Frist einen Stift in die Hand zu nehmen.
Es mag aber auch daran liegen, dass so ein intensiver Moment einer 30 sekündigen (oder möglicherweise noch viel kürzeren) Eingebung eines kompletten Buches einfach auch so unglaublich schwierig zu fassen, geschweigedenn niederzuschreiben ist. Also ist es möglicherweise doch nicht ihre Schuld, sondern einfach eine wirklich verzwickte Lage.


Sie hatte auch schon überlegt Kurzgeschichten zu schreiben. Aber Eingebungen dieser Art waren im Gegensatz zu ganzen Romanen so kurz, dass sie sie oft nichtmal bemerkte.

(Januar 2011)

2 Kommentare:

  1. Ich habe ein déjà vu, denn genau denselben Gedankengang hörte ich gestern abend am Telefon; mit dem Unterschied dass sich die dreißig Sekunden der Klarheit auf das exorbitante Kreativpotenzial des Tagtraumes reduzierten.

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  2. khih. Olf, du bist unbezahlbar. 10 Sekunden bin ich wieder im Blog und schon kommentierst du. Schön :)

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