Dienstag, 3. April 2012

"BEEN THERE, DONE THAT" WARUM TOURISTEN MEHR PHILOSOPHEN LESEN SOLLTEN

Letztens hat eine gute Freundin von mir am Telefon etwas sehr Interessantes gesagt. Sie sagte, sie sei froh, dass sie dieses Touriding in New York schon gemacht hätte und jetzt, wo sie mich besuchen komme, nicht noch einmal machen müsse. Eigentlich eine verdammt schräge Aussage, heisst das doch so viel wie: Ich mag dieses Touriding nicht, aber ich musste es machen und ich bin froh, dass ich es jetzt nicht noch einmal machen muss. Klingt komisch, nicht wahr? 

Ich glaube aber, jeder von uns kennt dieses Gefühl, diesen Zwang die Sehenswürdigkeiten eines Ortes abklappern zu müssen: mindestens ein Museum, die Bootstour definitiv, diese altehrwürdige Kirche, der geschichtsträchtige Platz, die In-Bar... wenn du das nicht gesehen hast, dann hast du echt was verpasst! Und du fühlst dich schuldig, faul, ungebildet. Es nagt an dir, dieses Gefühl von Unvollständigkeit, diese Angst vor Blossstellung. Weil, da ist diese Stimme in deinem Kopf, sie klingt nicht unbedingt wie ein/e Kollege/in, sondern eher wie dein schlimmster Feind und sie sagt ständig: "Waas?? Du hast Unglaublichgeil nicht gesehen?", "Du warst nicht in Wunderbar??", "Du kennst Megamuseum nicht??".  Sie begleitet dich auf Schritt und Tritt und auf jeden Anflug von Gemütlichkeit folgt ein Panikschub: Ich verpasse etwas!! (Die gleichen Angstzustände wie damals mit 16 an jedem Wochenende und jedem anderen Wochentag auch. Dieses Gefühl von: "Schiesse! X und Y haben die beste Zeit ihres Lebens und ich nicht! Argh!"). In Sachen Ferien nennt man es auch: been there, done that. Es hat mit Listen zu tun und Reiseführern und es schlägt sich auch in der Sprache nieder, wenn jemand nicht mehr sagt "Wir haben den Eiffelturm gesehen" sondern "Wir haben den Eiffelturm gemacht." Als ob es gar nicht um das Ansehen des Turmes oder das Geniessen der Aussicht von da oben ginge, sondern nur um das Häckchen auf der Liste. Eiffelturm: erledigt. What's next?

Erstmals zur Beruhigung: Ob ihr das been there, done that-Spiel mitmacht oder nicht, ist völlig egal. Wir sitzen alle im selben Boot: Die Fleissigen, die am Morgen den Reiseführer verschlucken und am Abend die Fotos ins facebook scheissen und die Faulen, die nach drei Bieren im Park sitzen bleiben und den Nachmittag mit Blödeleien verbringen. Beide Gruppen sind potentiell unzufrieden. Die Angst, das jemand mitleidig bis erbost bemerkt, dass man den besten Teil von Wahnsinnigschön verpasst, nichts Rechtes gesehen bzw. gemacht hat, ist immer da. Denn warum sonst müssten alle immer so darauf pochen, dass sie emfall all die tollen Dinge gemacht haben, die sie gemacht haben? Sie könnten ja auch still geniessen?! Können sie eben nicht. Wir sind gefangen in dem Gefühl irgendjemandem beweisen zu müssen, dass wir eine verdammt gute Zeit hatten. Und auch der- oder diejenige, der/die nun laut schreit, er oder sie hätten das nicht nötig!!! Er oder sie darf sich gerne fragen, wieso er oder sie gerade so verdammt laut geschrien hat.

Ich zum Beispiel. Ich war schon zweimal als Touristin in New York und jetzt lebe ich hier für ein halbes Jahr und ich war noch nie nichtmal in der Nähe der Freiheitsstatue oder wenigstens nicht bewusst und ich habe sie nie gesehen. Und wenn ich das erzähle, dann schauen mich alle (Nicht-Einheimischen) perplex an und auch mitleidig. Dann stehe ich als Banausin da. Und ich gebe zu, das geht mir manchmal auch durch den Kopf, dass ich eine Banausin bin. Es gibt vieles in New York, was ich (noch) nicht gesehen habe. Als ich vor einigen Jahren das UNO-Gebäude geschnitten hatte, erklärte mir meine Freundin sehr lange, wieso sie dieses Gebäude jetzt unbedingt sehen musste (wegen dem Politologie-Studium) und dass es ihr wirklich viel bedeutet hat (weil ihre Tante da arbeitete). Und ich verstand sie total. Und ich fühle mich heute noch irgendwie schlecht, weil ich nicht mitging. Immerhin war Geschichte im Gymi mein Lieblingsfach. Da hätte ich dieses verdammte UNO-Gebäude doch ansehen gehen müssen! Aber ich hatte einfach keine Lust. Und deshalb fühle ich mich schlecht.

Muss das denn sein? Wie viel mehr Freiheit kann mir diese Freiheitsstatue schon vermitteln, wenn ich mich beim Anblick meiner Blümchentapete in Brooklyn so frei fühle wie nie in meinem Leben? Muss ich sie denn wirklich sehen, weil Krethi und Plethi sie sahen?! Die Stimmen in meinem Kopf sagen "JA" und "NEIN" und ich weiss es immer noch nicht, aber zum Glück ist mir beim Nachdenken darüber, ob ich schizophren bin, etwas in den Sinn gekommen:

Die Philosophie spricht in diesem Zusammenhang von Einbildungen ohne Eigentümer (Pfaller, Die Illusion der anderen, Über das Lustprinzip in der Kultur, 2002). Laut Pfaller kommen sie "mehr oder weniger verdeckt in sämtlichen lustvollen kulturellen Praktiken, Spielen, Kunstwerken (...) vor." Ein Mechanismus, der sowohl Lust- als auch Schuldgefühle verteilt und "geeignet scheint, auf diese Weise den Zusammenhalt ganzer Gesellschaften zu regeln" (Pfaller: 9). Es sind Einbildungen, die nie ganz als die eigenen erscheinen und immer etwas schwer fassbar bleiben. Eine Illusion ohne Subjekt. (Pfaller: 10) Niemand würde ernsthaft behaupten, dass es wirklich schlimm ist, wenn man die Freiheitsstatue nicht gesehen hat. Aber nur weil ich mir sage, dass ich die Freiheitsstatue nicht sehen muss, wenn ich nicht will, fühle ich mich nicht besser, sondern vielleicht sogar schlechter. Meine Einbildung - von der ich weiss, dass sie dumm ist - übt einen ungeheuren Zwang auf mich aus.

Laut Pfaller und seinen Mitphilosophen haben diese Einbildungen der anderen auch viel mit der Theorie der Inerpassivität zu tun: dem Delegieren des Genusses an eine andere Person oder ein Gerät. Ein Phänomen, das Žižek in den 90er-Jahren anhand des Dosengelächters in Sitcoms erklärt hat: Wozu dieses Gelächter? fragt er sich. Soll es uns daran erinnern, wann wir zu lachen haben? Das würde ja bedeuten, dass wir nicht spontan lachen (können) und uns deshalb jemand ein Zeichen geben muss. Klingt doch verrückt! Und Žižek geht sogar noch weiter und behauptet, dass Dosengelächter uns von dem Zwang befreit zu lachen. Es lacht für, also anstelle von uns und dennoch oder gerade deswegen fühlen wir uns amüsiert ( Žižek zu "canned laughter": http://www.lacan.com/zizeklaugh.htm). 

Was hat das jetzt genau mit dem Zwang Sehenswürdigkeiten ansehen zu müssen zu tun? Um das zu erklären, möchte ich eine kleine Anekdote von einem guten Freund erzählen. Es ist eine dieser vielen Anekdoten, die von peinlichen Tourisen handeln, die sich hinter übergrossen Kameras verstecken und in vollen Bussen hockend von einer Sehenswürdigkeit zur anderen gekarrt werden. Diese Touristen, zu denen wir niemals gehören wollen, der Grund warum wir jedesmal zweimal überlegen, ob wir uns nun so einer Bustour anschliessen wollen. (Denn es wäre ja schon unheimlich praktisch, alles Wichtige an einem Nachmittag zu sehen, denn dann hätten wir den Rest der Tage Zeit zu Entspannen...!) Die Anekdote geht so: Ein Ehepaar, auf einer Bustour zum Loch Ness bleibt nach der Ankunft einfach im Bus sitzen und schaut auf einem Minifernseher einen Film. Bevor es den Film aber einschaltet, gibt es dem Busfahrer noch schnell seine Kamera und bittet ihn, einige Fotos vom Loch zu schiessen. "Kulturbanausen!"rufen wir alle im Chor und lachen. Aber haben es die beiden nicht vielleicht gerade begriffen? Dass sie nur zum Loch Ness fuhren, um die innere Stimme zu beruhigen, die sagte, man müsse diesen See gesehen haben? Machen wir Touristen nicht oft Dinge, die gar nicht uns persönlich interessieren, sondern eben die anderen? Und reicht es nicht, ein paar Fotos auf der Kamera zu haben, um die anderen in unserem Kopf zu beruhigen? So wie uns das Gelächter in Sitcoms beruhigt und glauben macht, wir hätten uns amüsiert? Denkt mal darüber nach...

Ich jedenfalls habe mir eine kleine Regel aufgestellt: Ich schaue mir nur diese Dinge an, die mir persönlich wegen Hobbies oder Interesse zusagen und ich lasse aus, was mich wirklich anödet und alle, die auf mich zukommen und finden: "Aber, aber, wie konntest du nur blabla verpassen??" denen erzähle ich von meiner unglaublich lustigen WG in Brooklyn, meiner Blümchentapete und dem Corner-Store, in dem fast 24 Stunden Salsa lief, den man bis in mein Zimmer hören konnte. Und ich weiss, damit mache ich alle eifersüchtig, mit meinen "authentischen Erfahrungen". Und wenn das nicht reicht, schiebe ich nach, dass ich am Time Square gearbeitet habe und wie peinlich die Touristen da waren. hehehe.

2 Kommentare:

  1. I gib der Recht. I lande meistens im Usland eh immer innere Bar. Ich nenne es das Bar-Paradoxon.

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  2. hahaha. Das Bar-Paradoxon. Nice one :)

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